R.H. Dinu u.a. (Hrsg.): Disability and Labour in the Twentieth Century

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Title
Disability and Labour in the Twentieth Century. Historical and Comparative Perspectives


Editor(s)
Dinu, Radu Harald; Bengtsson, Staffan
Published
London 2023: Routledge
Extent
XI, 237 S.
Price
$ 160.00; £ 96.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Frank Henschel, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der vorliegende Sammelband demonstriert die Potentiale und Grenzen eines hohen Anspruchs: Nicht nur interdisziplinär, sondern auch transnational vergleichend ist er angelegt, und es sollen nicht weniger als zwei Kernkategorien der Moderne miteinander verschränkt werden, die aktuell (wieder) enorme Konjunktur haben. Während die Geschichte der (Lohn-)Arbeit und der Arbeiter(klasse) seit ihrer Hochphase in der Sozialgeschichtsschreibung zeitweilig zugunsten poststrukturalistischer, kulturhistorischer Ansätze aus dem Fokus gerückt war, ist sie inzwischen erneut zu einem äußerst fruchtbaren Forschungsfeld geworden.1 Und die noch recht junge historiographische Beschäftigung mit Behinderung oder Dis/Ability erscheint allgegenwärtig.2 So ist es nicht nur in den Augen der Herausgeber gerade die Geschichte der Behinderung oder behinderter Menschen, die eine perspektivische Verbindung zwischen dem individuellen Körper und den gesellschaftlichen Strukturen geradezu erzwingt, ohne dass Fragen nach Wahrnehmung und Subjektivität dahinter verschwinden.

Dass Arbeit für solche Analysen eine hervorragende Linse darstellt, begründen die Herausgeber in ihrer konzisen Einleitung mit dem Charakter moderner Gesellschaften als „Arbeitsgesellschaften“ (S. 4). Das bedeute insbesondere für das 20. und 21. Jahrhundert, dass Überleben und sozialer Status des Individuums in erster Linie durch Lohnarbeit gesichert werden, wodurch eine wirkmächtige Norm entstanden ist. Das Konzept Behinderung, so führen die Herausgeber weiter aus, sei eng und dialektisch mit dieser Norm der Lohnarbeit verbunden. Wer sie nicht (voll) ausführen kann, gelte meist bereits als behindert, und wer behindert ist, an den oder die würden andere Erwartungen bezüglich der Lohnarbeit gestellt. Daran schließen die im Band behandelten Fragen an: Wie gingen die Gesellschaften im 20. Jahrhundert mit Menschen um, die diese Norm nicht erfüllen können? Welchen Platz wiesen sie ihnen zu, welche Mittel wandten sie an, um Menschen zur Erfüllung der Norm zu befähigen – oder änderten sie bestimmte Normen? Ohne tiefer in die mitunter ausufernden Diskussionen der Disability Studies als sozialwissenschaftlichem Impulsgeber für eine historische Beschäftigung mit Behinderung einzutauchen3, folgen die Herausgeber damit einem sozialen Modell von Behinderung, das weder eine normativ-biologische noch eine rein kulturell-subjektive Perspektive vertritt, sondern die Relationalität körperlicher, geistiger oder sinnlicher Konditionen in Bezug auf sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Strukturen untersucht.

Nicht nur dieser konzeptionelle, sondern vor allem auch der regionale Zuschnitt macht den Sammelband bemerkenswert.4 Denn im Zentrum stehen Gesellschaften auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“, insbesondere die Staaten Skandinaviens und Ost(mittel)europas, ergänzt um je einen Aufsatz zu Kanada, Frankreich und – zumindest in Ansätzen – Westdeutschland. Näher begründet wird diese Auswahl allerdings nicht. Außerdem wird nicht nur Lohnarbeit fokussiert. Einzelne Aufsätze, wie Ylva Söderfeldts Text über Vereinigungen von Menschen mit Multipler Sklerose, widmen sich ebenso der Haus- und der Care-Arbeit. Angesichts dessen, dass diese Vielfalt von Arbeit in der Einleitung stark hervorgehoben wird, findet sich darüber in den anderen Beiträgen aber zu wenig. Dafür werden verstärkt die Subjektivität und Agency von behinderten Menschen selbst in den Blick genommen, so in Dustin Galers und Anna Derksens Analysen von Disability-Aktivist:innen in Kanada beziehungsweise Skandinavien, die sich besonders der Forderung eines „Rechts auf Arbeit“ verschrieben hatten. Hier wird deutlich, welch zentrale Rolle Lohnarbeit für die Positionierung und das Selbstbild von Menschen einnimmt, aber auch, wie sie dazu führt, dass deren „Wert“ für die Gesellschaft an der Arbeitsfähigkeit gemessen wird. Mindestens implizit fördern alle Beiträge des Bandes diese Grundzüge eines utilitaristischen, eugenischen Denkens in modernen Gesellschaften zutage. Umfassende Unterstützung ist dementsprechend für behinderte Menschen nur dann zu gewähren, wenn sie wirklich nicht selbst für sich sorgen oder einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten können. Systematisch problematisiert werden diese Aspekte allerdings kaum, obschon beispielsweise auf bis in die 1970er-Jahre praktizierte Sterilisierungsprogramme in Schweden verwiesen wird oder Victoria Shmidt für die Tschechoslowakei die stigmatisierenden und segregierenden Effekte der Klassifizierungen gemäß der Arbeitsfähigkeit anprangert, die die Lebensumstände behinderter Menschen eher verschlimmert als verbessert hätten.

Die elf Aufsätze des Bandes, exklusive der bereits erwähnten knappen Einführung und des Nachworts von Monika Baár, auf das ich noch eingehen werde, verfolgen die Zusammenhänge von Disability und (Lohn-)Arbeit auf drei verschiedenen Ebenen: Vorkehrungen und Auswirkungen wohlfahrtsstaatlicher Politik; legislative und sozialpolitische Diskurse; aktivistische Praxis. So trennscharf wie in der Einleitung dargelegt, gehen die Beiträge allerdings nicht vor, sondern es mischen sich meist zwei oder sogar alle drei Dimensionen. Die multidimensionalen Ansätze bringen dann auch die gelungensten Beiträge hervor: die bereits erwähnten von Galer, Söderfeldt und Derksen sowie denjenigen von Frances Bernstein, der die medizinischen Klassifizierungen und betrieblichen Eingliederungsmaßnahmen von invaliden sowjetischen Kriegsveteranen zwischen Glorifizierung und Marginalisierung beleuchtet. Auch Mitherausgeber Radu Harald Dinu kann durch die Verschränkung von Gesetzgebung, betrieblicher Praxis und kollektivem Aktivismus in Rumänien die Lebens- und Arbeitswelten blinder Menschen tiefgründiger darstellen, zumal er die Entwicklungen bis in die Zwischenkriegszeit zurückverfolgt.

Andere Texte, die sich nur auf die Gesetzgebung beziehungsweise die Arbeit einer Regierungskommission beschränken, fallen hingegen ab. So kommt Cristina Popescus Aufsatz, der sich mit Arbeitsgesetzgebung für behinderte Menschen in Frankreich befasst, nicht über Deskription und teleologisch-positivistische Befunde hinaus. Die Autorin sieht eine stete Verbesserung der Lage dieser Gruppe auf dem Arbeitsmarkt durch die Implementierung nicht näher erläuterter wissensbasierter Maßnahmen. Ebenso referiert Cristina Diac beinahe ermüdend einzelne rumänische Gesetzestexte, die aber zumindest grundlegend in eine vergleichende Perspektive mit anderen sozialistischen Staaten Ost(mittel)europas gestellt werden. Und auch Mitherausgeber Staffan Bengtsson bewegt sich mit seiner Analyse des Berichts der schwedischen Kjellman-Kommission aus den 1940er-Jahren nur innerhalb starrer Modellvorstellungen eines skandinavischen Wohlfahrtsstaates, der zwar differenzierte Vorstellungen von den Herausforderungen für behinderte Menschen formulierte und diese auszugleichen versuchte, dessen Praxis Bengtsson aber an keiner Stelle ausführt oder wenigstens exemplifiziert.

Ungleich bereichernder ist Ina Dimitrovas Perspektive auf die Allianz von psychiatrischen Expert:innen und Patient:innen im sozialistischen Bulgarien, die gegen die Abwertung behinderter Menschen durch die Fokussierung auf ihre Arbeitsfähigkeit ankämpften, wenn auch mit beschränktem Erfolg. Ebenso zeigt der Aufsatz von Marcin Stasiak über die Bildungs- und Erwerbsbiographien von Polio-Erkrankten in der Volksrepublik Polen die Handlungsräume von Individuen; hier rückt Agency gegenüber einem sehr mächtig erscheinenden Staat in den Mittelpunkt.

Die Potentiale des Sammelbandes liegen damit, wenig überraschend, zumindest für die Mehrzahl der Beiträge in der Vielfalt und Verschränkung der Zugriffe, Perspektiven und Ansätze, der räumlichen Breite und der Konzentration auf Gesellschaften, die üblicherweise nicht so stark im Fokus der Forschung stehen. Die Grenzen liegen, ebenso wenig überraschend, in der weitgehenden Eigenständigkeit und Unverbundenheit der Beiträge. Die Begriffe Behinderung, Arbeit und Wohlfahrtsstaat sind nur grob definiert; sie werden in den Beiträgen unterschiedlich verwendet. Vergleichende Perspektiven finden sich nur punktuell, und die Schlussfolgerungen bleiben teilweise sehr begrenzt.

Nützlich ist deshalb das kurze, aber sehr dichte Nachwort von Monika Baár. Ihr gelingt es, auf nur vier Seiten gut ein Dutzend Aspekte als Gesamtschau in eine vergleichende Perspektive zu setzen. Davon die wichtigste und mittlerweile gar nicht mehr so überraschende: Der Eiserne Vorhang war weniger strukturbildend als oft (noch) angenommen. Vielmehr zeigten die untersuchten Gesellschaften ähnliche Entwicklungsverläufe von einer Wohlfahrtsexpansion bis in die 1970er-Jahre und einem anschließenden partiellen Rückzug sozialstaatlichen Engagements, der insbesondere behinderte Menschen betraf. Ihnen wurde weniger kollektive Solidarität gewährt und mehr individuelle Verantwortung aufgebürdet – in erster Linie dadurch, dass sie arbeiten und produktiv sein sollten. Unterstützung für eine selbstständige Lebensführung gab es selten und nur in eingeschränktem Maße. Stigmatisierung, Segregation und Exklusion behinderter Menschen finden sich darum in allen untersuchten europäischen Gesellschaften, trotz humanistischer oder sozialistischer Rhetorik. Fehlende oder eingeschränkte Arbeitsfähigkeit ging immer mit verstärkter Kontrolle und Disziplinierung einher. Dazu trugen paradoxerweise auch und gerade geschützte Arbeitsräume bei, in denen viele behinderte Menschen kaum unter Berücksichtigung ihrer individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse tätig sein konnten, sondern eher mit starrer Klassifikation und unter Fremdbestimmung. Weiterhin offene und vielversprechende Forschungsfelder sind laut Baár die auch in diesem Band vernachlässigten anderen Formen der Arbeit im Haushalt und im Sorgebereich, die Rolle internationaler Organisationen, aktivistische Vernetzungen sowie intersektionale Perspektiven, also die Verschränkungen von Disability, Gender, Race, Age, Class etc. Der Sammelband ist damit ein anregender Türöffner für die weitere Forschung, die begrifflich und konzeptionell noch stärker miteinander verbunden werden sollte.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa den umfangreichen Forschungsbericht von Kim Christian Priemel, Heaps of work. The ways of labour history, in: H-Soz-Kult, 23.01.2014, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/fdl-136825 (04.07.2023).
2 So widmet sich ein aktuelles Themenheft umfassend diesem breiten Forschungsfeld der Disability History im 20./21. Jahrhundert: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 19 (2022), H. 2, hrsg. von Sebastian Barsch / Elsbeth Bösl / Gabriele Lingelbach / Raphael Rössel, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022 (04.07.2023). Siehe dazu auch die Rezension von Angela Wegscheider / Matthias Forstner, in: H-Soz-Kult, 11.05.2023, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-132835 (04.07.2023).
3 Anne Waldschmidt (Hrsg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2019.
4 In ihrer Darstellung des Forschungsstandes vergessen die Herausgeber allerdings einen wichtigen, thematisch einschlägigen Band zur Disability History Ost(mittel)europas: Michael Rasell / Elena Iarskaia-Smirnova (Hrsg.), Disability in Eastern Europe and the Former Soviet Union. History, Policy and Everyday Life, London 2014.